Hallo Europa? Hallo Menschlichkeit?
Die Nachrichten scheinen täglich schlimmer zu werden, und ein Ende ist nicht in Sicht. Ich höre von Flüchtlingskontingenten, von Aufnahmestopps, von Rückstaus. Ich lese von Abschottung, von Grenzen, die geschlossen werden sollen oder es bereits sind. Davon, dass wir im reichen Europa niemand mehr hereinlassen können. Weil es zu viele würden. Weil wir das nicht mehr schaffen könnten. Weil die Belastungsgrenze erreicht sei.
Ich lese von Tränengas, Tumulten, Schlagstöcken.
Die Frau am Grenzzaun könnte ich sein. Oder du.
Ich stelle mir eine Mutter mit drei Kindern vor, wie sie an einem dieser Grenzzäune steht. Und herüberblickt. Aber nicht herüber darf. Sie ist erschöpft, ihre Kinder krank, der Mann möglicherweise tot. Es ist kalt, vielleicht schneit es sogar, es gibt kein oder viel zu wenig Essen. Sie ist verzweifelt, weiß nicht mehr weiter. Die Vorstellung treibt mir die Tränen in die Augen.
Wohlgemerkt: Wir reden von Europa im Jahr 2016. Das macht mich geradezu fassungslos.
Diese Frau könnte ich sein. Oder du. Aber wir haben Glück, wir müssen dort nicht stehen und uns nicht behandeln lassen wie Vieh. Weil wir auf der „richtigen“ Seite des Zaunes geboren wurden. Dafür bin ich unendlich dankbar, und gleichzeitig voller Scham. Weil es nicht mein Verdienst, sondern eine glückliche Fügung ist, die mich jetzt hier in meinem warmen Wohnzimmer sitzen und Tee trinken lässt, während andere frierend und hungernd an geschlossenen Grenzen stehen.
Niemand hat das Recht, anderen Menschen das Streben nach Sicherheit und einer Perspektive abzusprechen. Niemand hat das Recht, Wohlstand und Zukunft nur für sich selbst zu beanspruchen. Jeder Mensch hat dasselbe Recht auf Glück. Niemand, der auch nur einen Funken Moral und Herzenswärme hat, darf irgend jemandem dieses Recht absprechen.
Wir Europäer haben die „Gnade der richtigen Geburt“. Ein wenig mehr Demut, Mitmenschlichkeit, Großherzigkeit und Nächstenliebe würden uns angesichts dieses Glücks nicht schaden. Ich bin mir sicher: Würde sich jeder Mensch auf diese Werte – und damit auf das, was uns Menschen zu Menschen macht – besinnen, wäre diese zweifellos große Aufgabe, vor der wir stehen, schon teilweise geschafft.
Die EU-Parlamentarierin Birgit Sippel hat kürzlich eine kurze, aber bewegende Rede gehalten, in der sie sich fragt: „Sind wir als europäischer Kontinent mit 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger denn nicht in der Lage, uns um zwei bis drei Millionen Flüchtlinge zu kümmen?" Und sie stellt weiter fest: „Wir haben keine Flüchtlingskrise, sondern eine europäische Krise der Verantwortungslosigkeit."
Ja. Das denke ich allerdings auch.
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10 Kommentare
am Dienstag, 01. März 2016 um 09:05 Uhr
Ich bin ganz deiner Meinung. Umso mehr, da ich nun mit Flüchtlingskindern zu tun habe. Die wahre Krux liegt darin, dass die Bevölkerung weder aufgeklärt, noch unterstützt oder bestärkt wird im Umgang mit der neuen Aufgabe. Würde sich der europäische Mitbürger gut aufgehoben und verstanden fühlen durch seine Regierung, was im Zweifel auch heißt,ihm den nötigen Schutz vor den Bedrohungen, die das Ganze ohne Zweifel auch mit sich bringt, zu gewähren, dann hätten wir wohl nicht diese aus Angst und Hass geborenen Horrorszenarien. Ich glaube immer noch, dass gerade wir Deutschen eigentlich ein großmütiges und großzügiges Volk sind.
Lieben Gruß
Gabi
am Dienstag, 01. März 2016 um 11:30 Uhr
Liebe Susi, dem ist nichts beizufügen. Das Bedauerliche ist wohl, dass jene Menschen die so sehr von Menschenverachtung und Hass erfüllt sind, deine Worte wahrscheinlich nicht erreichen werden.
Liebe Grüße aus Salzburg, Claudia
am Dienstag, 01. März 2016 um 12:26 Uhr
Da kann ich nur drei Ausrufezeichen ´druntermalen. Was sonst?
am Dienstag, 01. März 2016 um 12:27 Uhr
Ein bisschen weiß ich wie man sich fühlt, denn ich bin 1984 mit meiner Mutter nach Deutschland geflüchtet. Das bedeutete für mich nur eins: Angst und das Ende meiner Kindheit. Danach war nichts mehr wie vorher, denn Sorgen, Geldmangel usw. kamen dazu. Alles egal, denn ich war in einem sicherem Land angekommen in dem es keine Korruption gab. Ich bin sehr dankbar, auch dafür wie Deutschland mit den Flüchtlingen umgeht. Polen, mein Heimatland, steckt da noch im Mittelalter. dort wird so gegen Flüchtlinge gehetzt, dass mir schlecht wird.
Wie gut, dass ich hier leben darf.
am Dienstag, 01. März 2016 um 13:15 Uhr
danke für die klaren worte.
es macht mich fassungslos und ich fühle mich ohnmächtig, wenn ich sehe, was rund um uns herum passiert. menschlichkeit, wo bist du?
am Dienstag, 01. März 2016 um 13:39 Uhr
Was ich fühle? Scham. Verzweiflung. Trauer. Ohnmacht. Und eine immer größer werdende Wut. An welchem Punkt ging der EU, die einst den Friedensnobelpreis gewann, jedes Gefühl für Menschlichkeit verloren?
An welchem Punkt hätten wir aussteigen oder umlenken können? Du, ich, wir, die wir noch zur Empathie fähig sind?
Ich weiß es nicht, ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Und ich versuche dennoch, mit meinen bescheidenen Mitteln für etwas mehr Wärme und Menschlichkeit zu sorgen ... Ob das reicht? Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe es.
am Dienstag, 01. März 2016 um 14:02 Uhr
Klassetext Susi Danke!!!
Dem ist nichts hinzuzufügen.
am Dienstag, 01. März 2016 um 19:34 Uhr
Vielleicht sollte man alle diejenigen, die sich so auf unsere christlichen Werte berufen mal an einen Satz erinnern: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten
Brüdern, das habt ihr mir getan
am Dienstag, 01. März 2016 um 20:24 Uhr
Good speech!
am Dienstag, 01. März 2016 um 21:54 Uhr
Dem ist nichts hinzuzufügen! Wir haben eine Verwaltungskrise, keine Flüchtlingskrise.
Angst machen mir die Rechten und die “besorgten Bürger”, nicht die Flüchtlinge.
Gestern noch mit syrischen Männern zusammen gesessen u gehört, wie sehr sie sich um Angehörige (u.a. Nähe Aleppo) sorgen. Du hast total recht. Das Streben nach Sicherheit ist niemandem zu verübeln. Wie würden wir wohl handeln im umgekehrten Falle? Genauso!
Doro
(die in den letzten Monaten liebenswerte und interessante Menschen aus Ghana, Guinea, Nigeria, Syrien, Irak und Iran kennen gelernt hat und die nebenbei erfahren hat, wie glücklich man selbst ist, wenn man etwas helfen kann u wie andere Menschen, die nichts mehr haben, trotzdem Gastfreundschaft zelebrieren)