Wie Rhythmus unser Leben bestimmt. Ein Gastbeitrag von Annette Bopp.
Müsste ich ein paar tolle Frauen in meinem Leben benennen – Annette Bopp wäre auf jeden Fall darunter. Nicht nur wirkt sie mit Anfang 60 jünger als manche Mittvierzigerin. Nicht nur ist sie eine preisgekrönte Journalistin für Medizin und Kultur, die seit vielen Jahren für alle großen Medien schreibt. Nicht nur erfolgreiche Autorin von über 30 Büchern und passionierte Bloggerin auf frolleindoktor.de. Nein, Annette ist auch eine ebenso herzenswarme wie kluge Frau, die nicht nur in Gesundheitsfragen immer Rat weiß. (Sagte ich bereits, dass ich sie toll finde?! ;-)) Mehr über Annette erfährst du hier im Montagsinterview.
Ich habe sie gebeten, einen Gastbeitrag für Texterella zu schreiben. Zu einem (Gesundheits-)Thema, das auch meine 40plus-Zielgruppe interessiert. Ganz typisch hat Annette natürlich nicht eines der „naheliegenden Themen“ gewählt, von denen man überall liest, wenn es um Frauen in der Lebensmitte geht.
In ihrem Beitrag geht es um Rhythmus, und wie er unser aller Leben bestimmt. Und wie wir ihn noch besser in unser Leben integrieren können. Sehr spannend!
Annette Bopp ist Journalistin und Autorin für Medizin und Kultur. (Foto: Carsten Strübbe)
"Rhythmus – das ist Musik und Tanz, Walzer, Tango, Swing. Das ist hüpfen und springen, gehen und drehen, wiegen und schwingen. Rhythmus ist flexibel, elastisch, anpassungsfähig – und Kennzeichen alles Lebendigen. Der gesamte Körper ist ein einziges Orchester, in dem jedes Organ, jeder Stoffwechselprozess einen eigenen Rhythmus hat, von extrem schnell bis extrem langsam:
- Nervensignale pulsieren in Sekundenbruchteilen durch das Nervensystem.
- Herzschlag und Atmung erfolgen im Sekunden-Abstand.
- Der Blutaustausch in den kleinsten Blutgefäßen des Körpers, den Kapillaren, erfolgt im Minutenrhythmus.
- Alle drei Minuten läuft eine peristaltische Welle durch die Magenwand und treibt etwas von dem im Magen vorverdauten sämig gewordenen Nahrungsbrei in den Zwölffingerdarm.
- Gallenblase und Bauchspeicheldrüse geben rhythmisch Verdauungssäfte ab.
- Der Inhalt des Dünndarms wird an den Zotten Tag und Nacht im 1- bis 4-Minuten- Rhythmus vor- und zurückbewegt („zwei Schritte vor, einen zurück“), was einen optimalen Flüssigkeitsaustausch garantiert.
- Schlafen und Wachen unterliegen einem 24-Stunden-Rhythmus. Sobald es dunkel wird, schüttet der Körper das Schlafhormon Melatonin aus, wird es hell, versiegt der Quell.
- Weibliche Hormone schwingen in monatlichem Wechsel.
Leben ist Rhythmus!
Auch im Tagesverlauf schwingen unsere Körperfunktionen in bestimmten Rhythmen: Innerhalb von 24 Stunden haben wir Leistungshochs und -tiefs, werden zu bestimmten Zeiten besonders viel Hormone, Enzyme und Verdauungssäfte ausgeschüttet, arbeiten oder ruhen Organe. Die Spiegel der „Hallo-Wach“-Hormone Adrenalin und Cortisol sind morgens am höchsten, auch der Blutdruck erreicht dann seine Tageshöchstwerte, um die Leistungsfähigkeit anzukurbeln. Die Körpertemperatur hat normalerweise am frühen Nachmittag ihr Maximum, zu diesem Zeitpunkt ist auch die Schmerzempfindlichkeit am geringsten, deshalb sollten Zahnarzt-Besuche tunlichst auf diese Zeit gelegt werden. Alkoholabbauende Enzyme werden vorwiegend abends ausgeschüttet – was erklärt, warum wir dann nicht so schnell beschwipst sind wie morgens und mittags. Die Leber erreicht nachts zwischen 21 und 3 Uhr ihre maximale Leistung im Aufbau der stärkeähnlichen Energiereserve Glykogen, während sie danach auf „Abbau“ umschaltet – und dann tagsüber vielerlei Stoffe neutralisiert und ausscheidet, Galle für die Fettverdauung absondert sowie das gespeicherte Glykogen mit Hilfe des Insulins in energiereichen Zucker verwandelt.
Die Filtrationsleistung der Nieren ist dagegen tagsüber am höchsten – sonst müssten wir nachts ständig zur Toilette!
Rhythmus ist etwas anderes als Takt!
Rhythmus wird häufig mit Takt verwechselt – beides sind aber sehr verschiedene Vorgänge. Charakteristisch für den Rhythmus ist, dass sich etwas auf ähnliche Weise wiederholt: Jeden Morgen geht die Sonne auf, aber nie an derselben Stelle. Rhythmus ist nie gleichförmig, nie monoton. Er ist elastisch, flexibel, dehnbar. Takt dagegen ist die identische Wiederholung in stets gleichbleibenden Abständen: das Tuckern eines Motors, das Rattern einer Maschine, das Klopfen eines Presslufthammers, das Tack-Tack-Tack eines Metronoms. Takt ist starr und eintönig und damit lebensfeindlich.
Am Herzschlag wird das besonders deutlich, es schlägt nämlich nie im Takt: „Das Herz marschiert nicht im Gleichschritt – es tanzt“, sagt der Physiologe Univ.-Prof. Dr. Maximilian Moser Human Research Institut für Gesundheitstechnologie und Präventionsforschung. Der Zeitabstand zwischen zwei Herzschlägen variiert souverän um einen bestimmten Grundwert, ähnlich einem schwungvollen Wiener Walzer. Eine solche ausgeprägte „Herzfrequenz-Variabilität“ ist die Voraussetzung dafür, dass sich das Herz gut an Belastungen anpassen kann, körperliche wie seelische, und somit ein Maß für die Gesundheit. Bleibt der Abstand zwischen zwei Pulsschlägen nämlich relativ starr – bringt das Herz also allenfalls einen schmalbrüstigen Foxtrott zustande –, ist Gefahr im Verzug. „Je monotoner und damit taktähnlicher der Herzschlag ist, desto schlechter kann sich das Herz auf unterschiedliche Belastungen anpassen, desto leichter wird es krank“, sagt Moser. Oder es ist sogar akut bedroht: Schlägt beispielsweise das Herz eines Babys während der Geburt ausnahmsweise vollkommen gleichförmig, also wie eine Maschine im Takt, klingeln bei Hebammen alle Alarmglocken. Denn dieses maschinenartige Herzklopfen zeigt an, dass das Baby in Lebensgefahr und ärztliches Eingreifen erforderlich ist.
Gedichte im Hexameter-Maß: gut für Herz und Blutdruck.
Aber nicht nur das Herz hat den Blues, der gesamte Verdauungstrakt unterliegt rhythmischen Prozessen – und zwar, ohne dass wir davon auch nur das Geringste merken. Das beginnt schon im Magen: Er rhythmisiert den gesamten Verdauungsprozess, indem er alle drei bis fünf Minuten eine Portion Nahrung an den Dünndarm abgibt. Auch wenn wir, wie im Alltag häufig üblich, sehr unregelmäßig essen und trinken, kann der Darm dennoch kontinuierlich Nährstoffe aufnehmen und in den Organismus einschleusen – Voraussetzung für einen gut geordneten Stoffwechsel und damit für körperliche Leistungsfähigkeit.
Rhythmus als Therapie
Wenn der Mensch so stark rhythmisch geprägt ist, dann müsste sich Rhythmus auch therapeutisch nutzen lassen – vor allem bei Menschen, die sehr arrhythmisch leben oder beruflich ständig unter Stress stehen. In Zusammenarbeit mit einer großen österreichischen Sozialversicherung hat Max Moser deshalb ein Rhythmus-Programm für Bauarbeiter und Pflegepersonal entwickelt. Beide Berufsgruppen arbeiten häufig unter hohem Stress oder im Schichtdienst, ihr Alltag ist von Arbeitshetze und psychischen Belastungen geprägt. Und siehe da: das Programm zeigte Wirkung! Schon nach einem Vierteljahr ging die Unfallhäufigkeit auf Baustellen durch regelmäßige Pausen, Ausgleichsübungen und Eurythmie (Übungen aus der anthroposophischen Medizin, die den Körper innerlich und äußerlich harmonisieren) sowie ein Führungs- und Kommunikationstraining auf nahezu Null zurück – ein in der Arbeitsmedizin höchst ungewöhnlicher Erfolg. Bei Pflegenden sorgt eine rhythmische Pausenkultur mit ausgleichenden Bewegungsübungen für kürzere Fehl- und Krankheitszeiten und für mehr Ruhe im Alltag.
Aber auch im ganz normalen Alltag wirkt Rhythmus stabilisierend und kräftigend:
- Geregelter Tagesablauf: Babys und Kleinkinder entwickeln sich am besten, wenn sie einen regelmäßigen Tagesablauf mit einer klaren Orientierung zwischen Tag und Nacht, mit zuverlässigen Zeiten für Essen, Spielen und Schlafen haben. Aber auch Erwachsenen hilft ein gut strukturierter Tag. Rhythmus spart bzw. ersetzt Kraft und schont die Nerven.
- Ausreichend Schlaf: Wer täglich sechs bis sieben Stunden schläft, ist leistungsfähiger als Menschen, die ihrem Körper weniger Ruhe gönnen. Aber mehr als neun Stunden täglich sollen es auch nicht sein – dann sinkt die Lebenserwartung eher wieder.
Mach mal Pause: Die körperlichen Aktivitätszyklen verlaufen im 1,5-Stunden-Rhythmus. Spätestens nach zwei Stunden anstrengender Tätigkeit – ob geistig oder körperlich – folgt der erste Durchhänger. Stundenlanges Durcharbeiten führt deshalb zwangsläufig in die Erschöpfung. Kleine kurze Pausen von wenigen Minuten im 1,5- bis 2-Stunden-Abstand (tief durchatmen am offenen Fenster, kräftig dehnen und strecken, einmal ums Haus laufen) halten frisch und leistungsfähig, auch während eines stressigen, langen Arbeitstages. - Atmung und Herzschlag harmonisieren: Öfter mal Gedichte im Versmaß des Hexameters rezitieren, zum Beispiel von Schiller („Der Spaziergang“): „Sei mir gegrüßt, mein Berg, mit dem rötlich strahlenden Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint!“ Rhythmusforscher Dirk Cysarz vom Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke fand gemeinsam mit Kollegen aus Bern (Schweiz) und Weiz (Österreich) heraus, dass dieses rhythmische Sprechen dazu beiträgt, Herzschlag und Atmung zu synchronisieren. Dieses gemeinsame Schwingen reguliert Puls und Blutdruck – ein Phänomen, das sonst nur in der Erholungsphase des Tiefschlafs erreicht wird. Auch die Ilias und die Odyssee von Homer sind im Hexameter-Versmaß geschrieben. In den griechischen Amphitheatern wurden diese Epen über 13 Stunden und mehr hinweg rezitiert. Das Publikum schwang sich darauf ein und war ganz im Flow des
Hexameters. Das war deren Gesundheitspflege. Schon toll, dass sich der gesundheitliche Wert dieser Kunst heute wissenschaftlich nachweisen lässt! - Mahl-Zeiten einhalten: Wer regelmäßig isst, unterstützt den Magen bei seiner rhythmischen Dauerleistung – und beugt Verdauungsstörungen vor. Magendrücken, Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung oder Durchfall entstehen nämlich häufig, weil zu unregelmäßig, zu hastig, zu spät oder zuviel gegessen wird. Medikamente sind dann oft weniger wirksam als eine Rhythmus-Kur für Magen und Darm: ein bis zwei Wochen lang konsequent nur alle zwei oder vier Stunden essen oder trinken – jeweils zu den geraden oder ungeraden Stunden. Damit erhalten Magen und Darm kontinuierlich rhythmische Impulse, die sie dabei unterstützen, ihren eigenen, normalen Rhythmus wieder einzupendeln. Und dann verschwinden auch die Beschwerden meist wie von Zauberhand."
Danke, Annette, für diesen spannenden Beitrag! Schillers Spaziergang habe ich mir schon ausgedruckt und werde das Gedicht dann mal häufiger rezitieren! :-)
Passend zum Thema hat mir Annette folgendes Buch ans Herz gelegt:
Das Herz stärken. Ein ganzheitliches Programm.
Erschienen 2011 bei GU.
(Bei Amazon bestellen.)
3 Kommentare
am Freitag, 11. Juli 2014 um 13:37 Uhr
Liebe Susi, liebe Frau Bopp, das ist ein wundervoller Artikel. Ich finde es sehr spannend, so viel über den körpereigenen Rhythmus und den daraus resultierenden Vorgängen zu erfahren. So lernt man sich selbst noch viel besser verstehen. Das Gedicht von Schiller werde ich mir gleich hinter die Ohren schreiben…
Ich wünsche ein schönes Wochenende, lieber Gruß, Conny
am Samstag, 12. Juli 2014 um 13:51 Uhr
Was für ein Zufall! Genau dieses Buch von Annette Bopp bekam ich diese Woche in die Finger, eine antroposophische Ärztin schwärmte davon. Und empfahl ganz heftig noch ein anderes Buch der Autoren: Bluthochdruck senken: Das 3-Typen-Konzept.” Auf dass die Bücher viele Leute gesund halten, gesund machen! ;-)
am Sonntag, 13. Juli 2014 um 14:54 Uhr
Liebe Susanne, liebe Frau Bopp,
ein wirklich interessanter - und vielleicht auch lebensverändernder - Beitrag! Er hat mich sehr nachdenklich gemacht, ob ich wohl meinem Leben den richtigen Rythmus gebe und wie ich dies ändern könnte. Vielen, herzlichen Dank für diesen wertvollen Gedankenanstoss!
Herzliche Grüße von
Stephanie alias die Modeflüsterin