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Frauen ab 40: Das Montagsinterview mit Julia Ritter.

Gingen wir mal davon aus, an dem Blond-Klischee wäre ein Hauch Wahrheit (ist es nicht – aber gehen wir einfach mal davon aus!) – dann wäre Julia Ritter der lebende Gegenbeweis. Ich kenne keine Blondine (aber auch keine Brünette, Rot- oder Schwarzhaarige), die annähernd so glasklar und messerscharf argumentieren kann wie sie. Und in solchen Situationen darf ich sie oft erleben, denn wir sind schon seit sehr vielen Jahren im selben Netzwerk engagiert (daher kenne ich Julia auch) und in eben diesem wird viel und gerne und oft und ausführlich diskutiert. Immer wenn Julia etwas schreibt, denke ich: „Wow – ist diese Frau klug!“ Ich denke, das spürt man auch in diesem Interview.

Julia Ritter, 45.

Wenn sie nicht gerade messerscharf argumentiert, dann textet oder übersetzt Julia, schreibt kreativ und gibt Seminare. Sie lebt und arbeitet in Berlin - und führt damit ein bisschen das Kreativdasein, bei dem ich gerne ins sehnsüchtige Seufzen und Hachen komme.

Übrigens, Julia ist die „kleine" Schwester von Antje, meiner allerersten Interview-Partnerin. (Ich erwähne das, weil sie bei einer der Fragen Bezug auf Antje nimmt!)

Wie würdest du deine Einstellung zu Mode bezeichnen oder beschreiben? Hat sie sich im Laufe deines Lebens verändert?

Als ich 17 oder 18 war, fand ich Mode als Differenzierungsmerkmal wichtig. Es gab Kleidungsstücke, die hatten Symbolcharakter, zum Beispiel eine Levi’s 501, die es damals nur in einem bestimmten Laden in Hamburg gab. Sie kamen gebraucht aus den USA, wo es natürlich an jeder Straßenecke Levi’s gab, und zwar neu, heil und für wenig Geld. Die Amerikaner müssen sich gewundert haben, was die Deutschen mit ihren kaputten Hosen wollen. Wahrscheinlich war das ein Grund, warum manche Leute in den USA noch bis in die 80er dachten, die armen Deutschen bräuchten dringend weiter Care-Pakete.

Raspelkurz als Teenie.

Jedenfalls hatte ich so eine 501, als Einzige in unserem Dorf und auch an der Schule, und natürlich wurde ich verspottet, denn die Hose war alt, kaputt und trotzdem teuer. Der Avantgarde wird noch mit gesundem Menschenverstand begegnet, der setzt dann aus, wenn der Schwachsinn zum Mainstream wird. Und was Avantgarde ist, hängt natürlich vom Umfeld ab.

Aus irgendeinem Grund gab es im Schreibwarenladen in dem größeren Dorf, in dem meine Schule war, die britische Zeitschrift The Face, die hab ich immer gelesen. Und später dann Tempo, das fand ich großartig und es war stilprägend. Ich weiß gar nicht mehr, woher ich vom Tempo-Launch erfahren hab (stand es in The Face?), jedenfalls war ich so topinformiert, dass ich am Hamburger Hauptbahnhof nach Tempo verlangte, als es das noch gar nicht gab. Ich war eine Woche zu früh dran und kriegte eine Packung Taschentücher statt der ersehnten Trendpresse. Das waren die Achtziger: Print bei bester Gesundheit und ich am Puls der Zeit.

Die späten Teenie-Jahre waren also meine modisch bewussteste Phase. Ich hatte schwarz-weiße 50er-Jahre-Herrenschuhe, die waren in den 80ern wieder in, ich hatte eine Frisur wie Grace Jones (nur in Blond), ich trug Kapuzenpullis unter Herrenjacketts (mein Vater hatte immer sehr edle Jacketts, die waren auch alt noch flott!) und die obligatorischen Pyjamahosen, manchmal auch Pyjamaoberteile, so glänzende aus Satin, allerdings nicht zusammen mit den Hosen. So richtig sexy war das alles nicht. Sexy war nur mal meine Faschingsverkleidung als Sondermüll, da hatte ich einen grauen Müllsack vom Landkreis Cuxhaven an, der saß hauteng (ich hatte aber auch noch was eng Anliegendes drunter, war ja Februar).

Mitte 20: Studentenparty in Chicago.

Später dann hat es sich gemäßigt. Ich wollte unbedingt nach Berlin ziehen, weil ich es großartig fand, dass man da nirgendwo so richtig auffiel. Das deutet darauf hin, dass Auffallen nicht unbedingt mein Ziel war. In Hamburg kam ich mir oft so etwas underdressed vor, jedenfalls in den schickeren Gegenden. Unser Dorf wiederum war sehr klein, da fiel eigentlich niemand auf, weil sich die meisten Leute kannten, jedenfalls vom Sehen, inklusive etwaiger modischer Marotten. Also war Berlin die Fortführung des Dorfs mit den Mitteln der Anonymität. Laut Aussagen von nicht in Berlin lebenden Menschen sehen die Leute hier alle gleich aus. Das finde ich nicht. Vielleicht bin ich es aber auch nur gewohnt.

Heutzutage ziehe ich normale Sachen an. Also ich finde die normal, ich zieh sie ja jeden Tag an und kaufe sie in ganz normalen Läden oder Second Hand (dann hat jemand anders vor mir sie in normalen Läden gekauft). Ich würde nicht mehr so einen großen Aufwand betreiben, um an bestimmte Kleidungsstücke (=Distinktionsmerkmale) zu kommen wie früher.

Das hat sich wohl geändert.

Welche Stilrichtung bevorzugst du? Wie hat sich dein Geschmack im Laufe deines Lebens verändert – und warum?

Keine Ahnung, welche Stilrichtung das ist. Ich ziehe gerne Röcke und Kleider an, aber auch Jeans. Ich besitze kaum Businesskleidung und bin sehr froh, dass ich einen Job habe, in dem die mir erspart bleibt. Ich habe mein Bügeleisen vor mehreren Jahren verliehen und bisher nicht wieder gekriegt, aber ich kann auch nicht richtig bügeln und besitze keine Sachen, die gebügelt werden müssen. Ich trage keine Kleidungsstücke, bei denen ich nicht sofort erkenne, welches Gliedmaß durch welche Öffnung zu stecken ist. Ich mag keine Rundausschnitte, keine Puffärmelchen, keine Schupfblusen, keine Haremshosen und auch nicht so gerne Tücher um den Hals, da krieg ich Atemnot.

Anfang der 90er: Fleißige Studentin in den USA (mit farblich passendem Steinzeit-MacBook ;)).

Stiefel mag ich sehr, würde aber meine Hosen nicht da reinstecken, es sei denn, ich gehe reiten, was leider fast nie der Fall ist. Mit Stiefeln friert man auch im Winter nicht im Kleid, denn sie halten Füße und Waden warm, und auf der kleinen Strecke bis zum Rocksaum kühlt sich das Blut im nur bestrumpftem Bein nicht so ab. Außerdem kann man, wenn man ausgeht, sein Geld und im Zweifelsfall auch seine Schlüssel und das Telefon (Samsung Galaxy S4 wahrscheinlich nicht, aber kleinere schon) in den Stiefel stecken und braucht keine Tasche, auf die man bloß immer aufpassen müsste.

Hattest du modische Vorbilder? Personen oder Persönlichkeiten, die deinen Stil geprägt haben – oder eine modische Ära?

Ich finde, meine Schwester Antje sieht immer extrem elegant aus, auch wenn sie olle Schlabberstrickjacken trägt. Aber sie ist kein Vorbild, das wäre nur deprimierend.

Ich mochte die Garderobe bei Twin Peaks, habe aber nicht die dazugehörige mädchenhafte Ausstrahlung. Und, um bei (leicht antiquierten) Fernsehserien zu bleiben, ich fand einige der Outfits von Lorelai Gilmore gut – auch sie eine große Stiefel-mit-Rock-Trägerin.

Hast oder hattest du ein Lieblingskleidungsstück? Wenn ja, welches? Und warum?

Das Hohelied auf Stiefel hab ich ja oben schon gesungen. Außerdem mag ich Kleider, weil sie so einfach sind. Genauso schnell angezogen wie ein Bademantel, aber vielseitiger einsetzbar. In Kreuzberg am Kanal gehen im Sommer manchmal die Patienten vom Krankenhaus spazieren, im Bademantel, die sind damit eigentlich viel angezogener als ich in meinem Kleid, wirken aber entblößter. Das liegt an der Intimität des Kleidungsstücks, ist aber trotzdem faszinierend. Leider sind mir viele Kleider zu kurz, weil die Mode sie sowieso schon sehr kurz mag und ich ziemlich groß bin.

Wie hat sich deine Einstellung zu Schönheit und Aussehen in den letzten Jahren verändert? Inwieweit hat das Älterwerden damit zu tun?

Ich würde ja gerne sagen, dass ich heute „gelassener“ bin, viele sind das sicher, aber ich finde mich zwischendurch immer noch grottig und wäre gerne ganz anders, nämlich perfekt. Obwohl ich natürlich die ganzen Weisheiten kenne: Schönheit kommt von innen, man muss nur ausgeglichen sein und gnädig mit sich, Perfektion ist langweilig, Perfektion gibt es nicht (aber wenn, dann wäre sie langweilig) etc. Wenn man sich scheußlich fühlt, hilft das wenig, im Gegenteil, denn dann hat man auch noch selbst Schuld und im Zweifelsfall nicht mal ein schönes Inneres, das müsste man ja irgendwie sehen von außen, tut es aber nicht.

Viel geliebt: Julia und ihre 501 ...

In meinen lichten Momenten denke ich, dass Schönheit ein Merkmal unter vielen ist. Sich zu grämen, weil man nicht schön (genug) ist, ist ungefähr genauso sinnvoll, wie zu hadern, weil man nicht perfekt Klavier spielen kann. Schönheit ist nur sofort sichtbar, meistens jedenfalls, die anderen Eigenschaften offenbaren sich erst im Laufe der Zeit, wenn überhaupt. Wichtig ist, dass es eben nicht so wichtig ist. Diese Erkenntnis kommt tatsächlich mit dem zunehmenden Alter. Ich fühle mich heute weder schöner noch weniger schön als früher. Ich finde es aber wichtiger, die Schönheit um mich herum zu sehen, als mich obsessiv mit der Frage zu beschäftigen, ob ich gut genug aussehe.

Zur Kosmetik: Bist du eher der Wasser-und-Seife-Typ oder glaubst du an die Möglichkeiten moderner Produkte?

Eher Wasser und Öl – das von einer Netzwerkkollegin (nämlich der klugen Katja Bartholmess!) empfohlene „Prinzip Fettfresse“: statt Seife Öl ins Gesicht schmieren, am besten so ein leichtes, mit warmem Wasser abspülen, fertig. Damit geht auch wasserfeste Mascara ab.

Du bist auf Reisen und hast deine Waschbeutel vergessen. Welche drei (Kosmetik-)Produkte kaufst du sofort?

Zahnpasta, gut duftende Handcreme, die schmier ich mir dann auch ins Gesicht (am liebsten Lavendelcreme von L’Occitane), Deo.

2006: Dancing Queen ...

Hast du ein Schönheitsgeheimnis?

Siehe oben. Ansonsten ist für mich das Geheimnis der Schönheit, dass sie im Auge des Betrachters liegt. Ich habe mal in einem Buch von William Boyd den schlauen Satz gelesen: „Das Letzte, was wir über uns lernen, ist, welche Wirkung wir auf andere haben.“ Oder so ähnlich, ich paraphrasiere. Wir wissen nicht, wie andere uns wahrnehmen, was sie an uns schön und interessant finden. Und wir selbst sehen die eigene (äußere) Schönheit nur im Spiegel, auf Fotos oder in Filmen, also in relativ seltenen, nicht unbedingt repräsentativen Momenten. Die meiste Zeit gucken wir ja aus uns raus in die Welt. Also finde ich, dass man ruhig anderen öfter mal sagen sollte, was man an ihnen schön findet.

Gibt es ein Mantra, das dich durch dein Leben begleitet?

Nein.

Danke, liebe Julia, für deine Antworten! Und für deinen Humor! Und dafür, dass du zur Nicht-Gelassenheit stehst! Ich bin es nämlich auch nicht. :-)

***
Mehr spannende Interview mit spannenden Frauen jenseits der 40 gibt es übrigens hier: Click and enjoy!

10509 11 50+ Lifestyle 09.12.2013   interview, julia ritter, mode, montagsinterview, schönheit, texterin, übersetzerin

11 Kommentare

Biggi
am Montag, 09. Dezember 2013 um 10:38 Uhr

Julia!! Grottig??? Du bist eine der attraktivsten Frauen, die ich kenne. Glaube mir, perfekt wärst du nur halb so schön.

Danke für die Einblicke in deine (Mode)Welt.

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Antje Ritter
am Montag, 09. Dezember 2013 um 10:42 Uhr

Meine wunderschöne (wie kann sie nur je daran zweifeln, wird sich manche Leserin hier sicher fragen) und kluge Schwester, auf die ich so stolz bin. Ganz gerührt habe ich dieses Interview gelesen - hier zum ersten Mal, ich kannte die Antworten vorher nicht. Danke, Susi und danke, Jule, für die so offenen und liebenswerten Antworten <3

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Corinna
am Montag, 09. Dezember 2013 um 11:04 Uhr

Hey Julia, hast du deine 501 auch bei Hundertmark auf der Reeperbahn gekauft? Oder gab es noch einen anderen Geheimtipp?
Danke für das tolle, offene Interview und dein Hohelied auf die Stiefel. Beim Tanzen stecke ich auch immer mein Geld in die Steifel. ;-)

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Barbara
am Montag, 09. Dezember 2013 um 11:18 Uhr

Hach, Julia, du bist so eine tolle Frau <3. Ich bin ganz bei Biggi, die sagt, dass du einer der attraktivsten Frauen bist, die ich kenne.Und intelligent und witzig. :) Danke für das tolle Interview <3

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Michaela
am Montag, 09. Dezember 2013 um 11:34 Uhr

Ich werde NIE vergessen, wie diese GROSS-artige ;-) Frau das erste Mal vor mir stand (ich ging ihr ungefähr bis zum Bauchnabel) und mich mit einer ihrer durchdachten, souveränen, intelligenten und von trockenem Humor durchzogenen Einlassungen beeindruckte.

Und irgendwie kommt es mir vor, als sei sie dabei auch lässig-elegant-perfekt gekleidet gewesen ... ;-) (ob sich da wohl die gefühlte Wahrnehmung des Äußeren nach dem Eindruck richtet, die das “Innere” hinterlassen hat? ;-)

Auf jeden Fall kann DIESE Frau in meinen Augen alles tragen - bestimmt auch einen Müllsack! ;-)

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Britta
am Montag, 09. Dezember 2013 um 12:49 Uhr

Julia, ich kann mir bei jedem Satz deine Betonung dazu vorstellen, haarwinzigklein genau. Und ich habe mich über jeden Satz total gefreut! Ich möchte bitte ein ganzes Buch davon, das würde ich immer wieder lesen :)

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Frauke
am Montag, 09. Dezember 2013 um 17:52 Uhr

Wow - was für ein tolles Interview. Ist aber auch logisch - wenn eine tolle Frau eine tolle Frau interviewt - da kann ja nur was lesenswertes, unterhaltendes und mitunter lehrendes rauskommen.

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Julia
am Montag, 09. Dezember 2013 um 19:15 Uhr

Ich sach’s ja: Auge des Betrachters. Woher ich die 501 hatte, weiß ich nicht mehr, aber nicht von der Reeperbahn. Irgendwo am Wasser war’s. Ich musste mich bei Hamburgbesuchen immer stark konzentrieren, mein Auto bzw. das meiner autofahrenden Freunde wiederzufinden, da blieb für andere Feinheiten wenig Geistekraft übrig. Irgendwie haben wir es immer geschafft, wie blöde durch die Straßen zu irren auf der Suche nach dem Fahrzeug. Wir Landeier.

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Tina
am Montag, 09. Dezember 2013 um 19:54 Uhr

Tolle Julia, tolles Interview, danke! Wie ganz oft bei Julias Wortbeiträgen hab ich auch hier wieder ganz viel Nicken müssen. Pyjamateile – die hab ich auch getragen, diesen Mikrotrend hatte ich ja total vergessen! Die Gedanken zur gefühlten Schönheit kann ich nachvollziehen, mal fühlt man sich wohl, mal grottig. Aber viel wichtiger als Guter-Haartag-schlechter-Haartag-Kram ist doch letztlich wirklich das Schöne innendrin. Das schöne, kluge und großherzige Herz sieht man ihr gleich an und das liest man auch raus. Mit Berlin freunde ich mich grad so ein wenig an – mir gefällt an der Stadt auch am besten, dass man da nicht auffällt, eine tiefe Gelassenheit lässt sich da nicht leugnen.

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Tina
am Montag, 09. Dezember 2013 um 19:56 Uhr

(Ein kleines Nicken hätte orthografisch allerdings gereicht.)

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Claudia
am Dienstag, 10. Dezember 2013 um 11:04 Uhr

Bekomme das Grinsen gar nicht aus dem Gesicht. Pragmatisch, ehrlich, wunderschön.
Dankeschön.

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