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Gedanken.

Paris und die andere Seite des Lichts.

Es war mein letzter Abend in Paris. Den Nachmittag hatte ich auf einer Mode-Performance im Wohnpalais des niederländischen Botschafters verbracht. Schon zur Begrüßung war Champagner gereicht worden, und im Anschluss gab es Fingerfood im eleganten Garten hinterm Haus. Und noch mehr Champagner.

Es war fast 9 Uhr abends und ich drehte noch eine letzte Runde über den Place Pigalle. Die Luft war warm, sonnendurchtränkt. In den Restaurants saßen die Menschen draußen und tranken Wein. Lachten. Die Stimmung war bezaubernd. Konnte Paris schöner sein? Konnte das Leben schöner sein?

Dann sah ich ihn, den kleinen Jungen. Vielleicht 10 Jahre alt, dünn, dunkle Haare. Halb lag er, halb saß er an die Hausmauer gelehnt, die Beine unter einer Decke oder einem Schlafsack. Einen winzigen Augenblick überlegte ich, ob er vielleicht spielte, hier auf der Straße, wie Kinder das nun mal tun, während seine Eltern in einem der zahlreichen Restaurants ums Eck saßen. Doch nach dem Bruchteil einer Sekunde wurde mir klar, dass er nicht spielte, sondern sich für die Nacht fertig machte. Eine Nacht auf der Straße. Hier im wunderschönen Paris, in dem ich nachmittags von weiß livriertem Personal mit Champagner und Häppchen versorgt worden und drei Tage lang von einer Luxus-Show zur nächsten geeilt war. In der für zehn Minuten Catwalk x Zehntausende Euro ausgegeben wurden. In der ich durch Galeries Lafayette geschlendert war und erwogen hatte, eine Handtasche von Chloé zu kaufen.

In dieser Stadt voller Luxus in diesem reichen Europa schlief dieser kleine Bub alleine auf der Straße. Und niemanden kümmerte es, niemand tat etwas. Jeder ging vorbei.

Kurz überlegte ich die Polizei anzurufen. Oder das Jugendamt. Oder ihm wenigstens ein paar Euro zu geben, für was auch immer. Aber ich war wie gelähmt von meiner Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Und so ging auch ich vorbei und tat nichts. Beschämend, ja.

Seitdem denke ich an dieses Kind. Was ich hätte tun können. Wie ich hätte helfen können. Ob überhaupt, angesichts der unzähligen Bettler und Obdachlosen in dieser Stadt. Ob ein Anruf bei der Polizei etwas geändert hätte, oder ein paar Euros.

Ich weiß es nicht.

Was hättest du getan?

4274 6 Gedanken., 50+ Lifestyle 07.10.2016

6 Kommentare

Anne
am Freitag, 07. Oktober 2016 um 07:31 Uhr

Ich weiß es nicht.

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Kari
am Freitag, 07. Oktober 2016 um 08:46 Uhr

So ein Erlebnis geht einem lange nach. Ich hatte letzten Monat ein ähnliches Erlebnis in Bordeaux: ein junger Bettler, den Augen nach offensichtlich drogensüchtig. Und er sah - und das traf mein Herz zutiefst - meinem eigenem Sohn ähnlich. Ich habe ihm Geld gegeben, das war ja sein Verlangen, aber ich habe mich dabei geschämt, wieso auch immer.
Ich habe lange überlegt, was ich sonst hätte machen sollen… ein junger Kerl, gut aussehend, kräftig, nur eben auf der falschen Bahn.
Wäre er mir aufgefallen, wenn er alt, abgerissen und von Drogen zerstört da am Boden gehockt wäre?
Vermutlich nicht. Das kennt man ja, da geht der eigene Blick gekonnt daran vorbei. Sind aber auch Menschen.
Weiter bin ich in meiner Gewissenserforschung noch nicht gekommen. Gebe aber in der Zwischenzeit jedem Bettler Geld.

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Susi
am Freitag, 07. Oktober 2016 um 09:55 Uhr
Ich gebe Bettlern auch. Nicht immer, aber oft. Weil ich grundsätzlich denke, lieber einmal zu oft als zu wenig gegeben ... Dass dich der Anblick getroffen hat, kann ich gut verstehen. Da steigen mir schon beim Lesen Tränen in die Augen! Liebe Grüße!

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Claudia
am Freitag, 07. Oktober 2016 um 09:27 Uhr

Liebe Susanne,
erst mal danke ich dir, dass du von dem kleinen Jungen kein Foto gemacht hast und hier eingestellt hast. Ich lebe zum Teil in Paris und gerade während der Fashion Week scheint es ganz chic zu sein, Obdachlose auf den Straßen in Paris einfach zu fotografieren und dann im Blog, Instagram oder sonst wo ungefragt zu zeigen, um neben dem ganzen Chic auch die eigene Betroffenheit zu dokumentieren.

Ja, Paris ist nicht nur die in traumhelles Licht getauchte Stadt aus Instagram.

Es gibt viel Elend hier und von staatlicher Seite wird man nicht immer gut fertig mit den vielen Emigranten, Obdachlosen und hilfebedürftigen Menschen die in Paris stranden. Andererseits, gibt es auch sehr viele private Organisationen und auch Privatmenschen, die mit ihren Hackenporschen täglich durch die Stadt laufen und Tüten mit Essen und Wasserflaschen verteilen, um die schlimmste Not zu lindern.

Tatsächlich macht der Anblick von Kindern und Jugendlchen in diesem Elend, in einer der teuersten Städte der Welt oft hilflos und traurig. Und diese Situation war bestimmt sehr schwierig zu beurteilen, da die Kinder oft auf diesen Straßen, manchmal auch schlafend, auf ihre Eltern warten, um dann gemeinsam entweder auf den Straßen zu schlafen,oder eine der Herbergen aufzusuchen. Manchmal lassen aber auch die Banden der “Betrüger und Touristen-Abzocker” ihre Kinder einfach irgendwo schlafen, um ihren Geschäften nachzugehen und später wird dann gemeinsam zum Hotel oder in die Wohnung gefahren. Ein Anruf bei der Polizei wäre da manchmal gerade schlecht, bzw. könnte dich selbt auch in eine schwierige Situation bringen. Auch wenn es mir widerstrebte dies zu schreiben.

Ich kenne die Gegend um Pigalle, aber auch gerade Montmartre sehr gut und würde raten, als erstes Anwohner anzusprechen bzw. Lokalbesitzer, meist kennt man die Situation, weiß wer zu wem gehört und weiß auch, wer zu verständigen wäre.

Liebe Grüße
Claudia

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Susi
am Freitag, 07. Oktober 2016 um 10:56 Uhr
Liebe Claudia, vieles von dem, was du schreibst, waren eben auch meine Gedanken! Von praktischen Erwägungen (Telefonnummern) und sprachlichen Problemen ganz abgesehen. Ach, ich weiß auch nicht ... so wunderschön ich Paris, die offensichtliche Armut an vielen Stellen hat mich sehr bedrückt. Obdachlose zu fotografieren und diese Bilder zu veröffentlichen finde ich gerade zu pervers. Auf diese Idee wäre ich niemals gekommen. Liebe Grüße!

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Beate
am Freitag, 07. Oktober 2016 um 20:40 Uhr

ich arbeite in Frankfurt und auch da gibt es sehr viele arme Menschen. So sehe ich z.B. eine alte Dame, immer"ordentlich angezogen”, nicht abgerissen, die mit dem Hackenporsche unterwegs ist und Pfandflaschen aus den Abfalleimern holt. Dass sie arm ist, sieht man nicht auf den ersten Blick. Im Hauptbahnhof sammeln ebenfalls sehr viele arme Leute. Meine Kollegin erzählte gerade heute morgen, dass sie oft Geld und auch Essen und Wasserflaschen verschenkt. Ich gebe nur Essen, kein Geld. Und das alles am Fuß der reichen Bankhochhäuser! Auch wenn wir versuchen, etwas zu helfen, sind wir doch hilflos.
Liebe Grüße

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